Bonjour, Doyenne!

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Wer von einer Reise nach Belgien spricht, denkt gern an Brügge, Antwerpen oder Gent, die grossen Städte im Norden. Doch auch der französischsprachige Süden hat viel zu bieten, wie die 300 Velokilometer auf den Spuren der berühmten Tour Lüttich–Bastogne–Lüttich unserem Autor vor Augen geführt haben.

 

Schon lange hatten die grünen Hügellandschaften der «Doyenne», des ältesten Radklassikers Lüttich–Bastogne–Lüttich, die Lust in mir geweckt, diese in der Schweiz wenig bekannte Region zu entdecken. Die offizielle Rennstrecke ist leicht zu finden. Um grosse Strassenachsen zu meiden, habe ich sie jedoch teilweise angepasst und hier und dort auch improvisiert.

Die Stadt Lüttich hat den Vorteil, dass sie auf Schienen in knapp 5½ Stunden ab Basel (via Köln) leicht erreichbar ist. Ich verlasse Lüttich, die «Cité ardente», frühmorgens. Mein Höhenmesser gibt 60 Meter an; irgendetwas sagt mir, dass es nicht lange so bleiben wird.

 

Zum Aufwärmen geht es gemütlich dem Fluss Ourthe entlang, durch ruhige Strassen oder über alte Wege und wiederhergestellte Treidelpfade. Kein Auto weit und breit, dennoch muss ich aufpassen, weil hin und wieder Wildgänse und Enten meinen Weg kreuzen. Ich komme mit einem Radfahrer ins Gespräch, der mich eingeholt hat und der mir erklärt, dass Wallonien ein Wegnetz mit dem Namen «Ravel» (Réseau autonome de voies lentes) aufgebaut hat. Dabei wurden ausrangierte Eisenbahnlinien, Uferwege oder kleine Strässchen für Velofahrerinnen, Fussgänger und Leute hoch zu Ross hergerichtet. Dank mässigen Höhenunterschieden und einer guten Beschilderung ist «Ravel» für alle gut zugänglich. Mein Gesprächspartner erwähnt zum Beispiel ein riesiges asphaltiertes Netz, das ganz Ostbelgien durchquert und Deutschland (Aachen) auf der alten Vennbahnlinie mit Luxemburg verbindet. Danke für den Tipp, vielleicht ein andermal.

«Mein» Ravel wird unterbrochen, und so fahre ich auf Nebenstrassen nach Durbuy. Ein Schild, das Durbuy die «kleinste Stadt der Welt» nennt, weckt meine Neugier. Während ich mir eine wohlverdiente Erfrischung gönne, erklärt mir der Kellner, dass das Schild nicht mehr aktuell ist, seit Durbuy mit Nachbargemeinden fusioniert hat. Das hält Neugierige aber nicht davon ab, hierher zu pilgern.

 

Kurz nach Barvaux lasse ich mich von einer «Rue du Menhir» ablenken, dann von einem Wegweiser, auf dem «Dolmen» steht. Das Wetter ist schön, und der Weg nicht weit. Ich mache deshalb einen improvisierten Umweg nach Wéris, wo in der Tat mehrere Menhire in der Landschaft stehen, ebenso ein echter Dolmen: Mitten in Wallonien schnuppere ich ein wenig bretonische Luft.

Nach diesem prähistorischen Abstecher geht es weiter südwärts, und mein Höhenmesser kommt langsam in Fahrt: Ich erreiche 600 Meter, bevor ich nach Houffalize herunterfahre. Nachdem ich die offizielle Rennstrecke lange gemieden habe, wage ich mich hier nun wie die Profis an die mordsmässige Steigung von Saint-Roch. Bei 20 Prozent frage ich mich, wie man Belgien als flaches Land bezeichnen kann. Es bleiben rund 10 Kilometer bis Bastogne, wo ein Kreisel mit Radfahrerdenkmal an das jährliche Profirennen erinnert. Nach 125 Kilometern ist es Zeit, Kräfte für den nächsten Tag zu sammeln. Das Essen ist nicht überbordend, aber sehr einheimisch: Ein «Boulet à la liégeoise», das sich aus Fleischbällchen, Pommes Frites und einer wunderbaren Lapin-Sauce zusammensetzt. Letztere hat trotz ihres Namens nichts mit Kaninchen zu tun, sondern soll auf eine gewisse Géraldine Lapin zurückgehen, Ehefrau eines Notabels aus Lüttich gegen Ende des 19. Jahrhundert. Auf dem Platz erinnert ein echter amerikanischer Panzer daran, dass die entscheidende Ardennenschlacht 1944/45 in dieser Region stattgefunden hat.

 

Am nächsten Tag verlasse ich Bastogne wieder auf einem Ravel-Weg Richtung Vielsalm. Hier beginnt jedes Jahr die Fernsehübertragung des Rennens. Heute werde ich mehr Zeit auf der Originalstrecke verbringen. Zuerst geht es das Salm-Tal hinunter, dann zweige ich rechts gegen Wanne ab, etwas unsicher – bin ich auf der richtigen Strasse? Doch die Steigung ist schön regelmässig und führt durch wunderbare Landschaften. Ich fahre Richtung Stavelot herunter und nehme dann den steilen Anstieg am Stockeu in Angriff. Ausser Atem halte ich auf dem «Gipfel» an (die Steigung geht noch weiter, doch weder die Rennfahrer noch ich müssen den Rest bewältigen): Hier befindet sich ein Denkmal für Eddy Merckx, fünffacher Sieger des Rennens. Die Abfahrt ist furchteinflössend, und ich frage mich, wie die Profis es wagen, sie mit 80 km/h zu nehmen. Ich begnüge mich mit der Hälfte.

Eigentlich wollte ich den Aufstieg der Haute-Levée nehmen, doch von unten sieht er unangenehm aus: Es hat viel Verkehr, und die zweispurige Strasse ist eng. Da es schon spät ist, nehme ich einen kleinen Imbiss und frage den Wirt um Rat. Dieser gibt mir eine Alternativroute über Amermont an, die schwieriger, dafür aber menschenleer ist und wunderbar mitten durch die Felder führt.

Die Achterbahn geht weiter: Kaum oben, nehme ich wieder die Originalstrecke und fahre herunter, um gleich den nächsten Berg hochzujagen. Auch der Rosier-Aufstieg ist pittoresk, genauso wie die kurvige Abfahrt durch Wälder nach Spa hinunter. Nach 80 hügeligen Kilometern beschliesse ich, die Nacht hier zu verbringen. In der hübschen Thermalstadt hat man die Qual der Wahl. Übrigens: Eine Thermalstadt, die Spa heisst, genauso wie die internationalen «Spa»in Thermalbädern – Zufall? Die befragten Einheimischen jedenfalls glauben gerne daran, dass sich der Name ihrer Stadt so in der ganzen Welt verbreitet hat.

 

Die letzte Etappe ist die kürzeste. Deshalb kann ich noch etwas die Stadt und ihre Umgebung geniessen: statt Thermalbäder und Casino ein belebender Spaziergang in den Wäldern oberhalb von Spa. Anschliessend steige ich wieder aufs Velo und fahre Richtung Col du Maquisard. Der Name mag für die 2½ Kilometer lange Steigung etwas pompös sein, doch die paar Kehren verleihen ihr durchaus einen gewissen Charme.

Dann geht’s Richtung Remouchamps hinunter. Bei der Einfahrt in das kleine Dorf treffe ich auf einen Gasthof, in dem Radfahrer offensichtlich willkommen sind: In der «Brasserie-hôtel du cheval blanc» trifft sich der Fanclub des einheimischen Philippe Gilbert. Dieser gewann 2011 Lüttich–Bastogne–Lüttich und wurde im nächsten Jahr Weltmeister. Ich erhole mich in der Brasserie und widme mich der Dekoration zu Ehren des einheimischen Meisters.

Philippe Gilbert hat wohl Dutzende Male die «Redoute» hinter sich gebracht, den Aufstieg, der so berühmt ist, dass er einen eigenen Wegweiser hat. Ich jedoch mache ihn zum ersten Mal und habe meine Mahlzeit noch nicht ganz verdaut. Aber ich überlebe es und gönne mir auf dem Gipfel eine Panoramapause.

Dann fahre ich auf der Rennstrecke weiter, via Sprimont – eine Nationalstrasse, die sich kaum vermeiden lässt, aber so breit ist, dass ich mich sicher fühle – in Richtung Esneux. Bereits am ersten Tag bin ich dort auf meinem Ravel-Weg vorbeigekommen. Diesmal nehme ich die Steigung beim Roche aux Faucons, wo in den letzten Jahren mehrmals die Rennentscheidung fiel. Auf dem Gipfel, zehn Kilometer vor Lüttich, wartet eine Art Autobahn. Das heisst für mich: Entweder die Rennstrecke durch graue Vororte nehmen, oder nach Tilff hinunterfahren und dann auf dem grünen Ravel-Weg nach Lüttich. Ich ziehe die zweite Variante vor und begnüge mich mit einer letzten Etappe von 50 Kilometern. Dass ich nicht ganz bis ans Ziel des Rennens fahre, ist ein guter Grund, um in diese verkannte, aber äusserst reizvolle Region zurückzukehren!

 

Tour: Rund 300 km auf den Spuren des Radklassikers Lüttich-Bastogne-Lüttich

Schwierigkeitsgrad: 3/4

Charakterstik:Sehr hügelig und abwechslungsreich (Steigungen, Abfahrten, flache und belebte Stücke)

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